Taktikcheck GP Belgien
Die Achterbahnfahrt von Norris

GP Belgien 2023

Viele Entscheidungen fielen schon vor dem Rennen. Ferrari traf die Abstimmung genau richtig. McLaren war mit zu viel Abtrieb unterwegs. Für Lando Norris wurde der GP Belgien zur Achterbahnfahrt.

Lando Norris - McLaren - GP Belgien 2023 - Spa-Francorchamps
Foto: Wilhelm

Es war eine Reise ins Ungewisse. Der Sprint-Zeitplan und Regen verkürzten die Vorbereitungszeit der Teams auf Null. Es gab keine Longruns, keine Runden mit vollen Tanks, keine Erkenntnisse über die Reifenmischungen medium und hart. Die Teams mussten sich auf zwei Wetterszenarien vorbereiten: Regen am Samstag, trockene Fahrbahn am Sonntag.

Größen wie Abtrieb, Bodenfreiheit, Benzinverbrauch und Bremskühlung mussten anhand von Simulationen und Erfahrungswerten bestimmt werden. Wegen der Bedeutung der Bodenfreiheit für Groundeffect-Autos war Risikomanagement angesagt. Zu viel Fahrzeughöhe kostete Rundenzeit, zu wenig drohte die Schutzplanke zu stark abzunutzen oder ins Bouncing zu fallen.

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Lando Norris - GP Belgien 2023
Wilhelm
Lando Norris war mit seinem zu großen Heckflügel eine leichte Beute für die Konkurrenz.

McLaren mit zu viel Abtrieb

Erst nach dem Grand Prix zeigte sich, wer richtig gepokert hatte. Red Bull traf wie immer den Nagel auf den Kopf. Dann folgte Ferrari und Mercedes mit der Konfiguration, die Lewis Hamilton gewählt hatte. Alle wählten wenig Abtrieb und eine gerade noch vertretbare Bodenfreiheit. Das zeigte sich daran, dass Max Verstappen, Sergio Perez, Charles Leclerc und Lewis Hamilton trotz guter Topspeed-Werte auch im Sektor 2 schnell waren. Dort musste der Abtrieb vom Unterboden kommen.

Aston Martin blieb in der goldenen Mitte. George Russell hätte sich mit seinem gewählten Abtriebsniveau Regen gewünscht. Die McLaren glänzten im nassen Sprint und stürzten im trockenen Hauptrennen ab. McLaren setzte mangels geeigneter Heckflügel auf zu viel Anpressdruck. Um zu zeigen, wie stark McLaren aus dem Raster fiel, reicht der Vergleich zwischen Hamilton, Russell und Norris. Russell verlor im Vollgasstück zwischen La Source und Le Combes zwei Zehntel auf Hamilton, Norris acht.

Soft-Reifen überrascht alle

Der Blindflug brachte für alle im Feld Überraschungen. Zum Beispiel, dass die Soft-Mischung der beste Rennreifen war und Pirellis härteste Mischung sich als unbrauchbar erwies. Damit rechnete nicht einmal Pirelli. Zu den unerwarteten Erkenntnissen zählte auch, dass man mit einem Stopp in die Punkte fahren konnte, mit drei aber nicht.

Die Reifenabnutzung war um 20 bis 30 Prozent geringer als erwartet, das Körnen trotz grüner Strecke weniger schlimm. Das definierte auch den Vorteil des Soft-Reifens. "Er hat nicht mal vorne gekörnt. Der Medium war da anfälliger", berichtete Pirelli-Sportchef Mario Isola. Widersprüchlich auch die Stint-Längen. George Russell drehte 22 Runden auf einem Satz Medium, Lando Norris 27 auf einer Garnitur Soft.

Wegen des Dauerregens an den ersten beiden Tagen standen den Fahrern am Sonntag frische Reifen in Hülle und Fülle zur Verfügung. Die große Ungewissheit führte zu acht unterschiedlichen Taktiken und demzufolge auch zu 61 Überholmanövern. Als erfolgreichste Strategie erwies sich soft-medium-soft. Das war die Wahl der Top 4 im Resultat, von Esteban Ocon und Guanyu Zhou.

Pierre Gasly - Alpine - GP Belgien 2023 - Spa-Francorchamps
Wilhelm
Pierre Gasly hielt lange auf dem weichen Startreifen durch.

Gasly und Norris als Testdummies

Immerhin 13 Fahrer wählten den Soft als Startreifen. "Wir haben uns den Soft nicht zugetraut", gab Aston-Martin-Teamchef Mike Krack zu. Seine Fahrer landeten trotzdem in den Punkten. Sie sattelten später auf die C4-Mischung um. Alonso mit Zweifeln. "Fernando hatte am Funk nachgefragt, ob wir uns wirklich sicher sind. Er mag den Soft-Reifen nicht besonders. Wir haben ihn mit der Information überzeugt, wie weit andere mit dem Soft-Reifen gefahren sind", berichtete Krack.

Pierre Gasly und Lando Norris waren quasi die Testdummies für den Rest des Feldes. Als Gasly erst nach 23 Runden seinen Satz Soft gegen eine Garnitur Medium eintauschte und vorher immer noch respektable Rundenzeit fuhr, war vielen klar, dass der Soft-Reifen die beste Option für das Finale war. Zumal auch noch ein kurzer Regenschauer drohte. Als Lando Norris auf der harten Mischung im zweiten Stint verhungerte, da war das ein Alarmsignal für den Rest: Finger weg von der C2-Mischung. Außer Norris rührte sie niemand an.

McLaren zieht zwei Mal die Reißleine

McLaren hatte im Sprint ein Auto für das Podest. Oscar Piastri stellte es als Zweiter unter Beweis. Im Regen war der Abtrieb eine Trumpfkarte. Auf trockener Bahn am Sonntag wurde er zur Strafe, sobald man im Pulk fuhr. Lando Norris wurde von seinen Gegnern aufgefressen, obwohl er bei freier Fahrt viel schneller war als sein Umfeld. Als der Engländer innerhalb von vier Runden vier Positionen verlor, holte ihn sein Team schon in der 5. Runde an die Box.

Teamchef Andrea Stella erklärte: "Wir mussten ihn aus dem Verkehr holen, um ihm freie Fahrt zu geben. Leider haben wir mit dem harten Reifen die falsche Wahl getroffen. Der hatte null Grip. Lando ist wieder in den Verkehr gefallen und stand wegen des schlechten Topspeeds wieder mit dem Rücken zur Wand."

Norris fiel bis auf Platz 16 zurück, bevor McLaren schon in Runde 17 ein zweites Mal die Reißleine zog. "Der angekündigte Regenschauer gab uns eine zweite Chance. Wir wollten in dem kritischen Moment Soft-Reifen am Auto haben. Der zweite Stopp hat Lando in ein Fenster geworfen, in dem er endlich frei fahren konnte. Da hat er dann die Zeit gutgemacht, die uns am Ende den siebten Platz gebracht hat", zeichnete Stella das Rennen seines Fahrers nach.

Max Verstappen - Red Bull - GP Belgien 2023
Wilhelm
Max Verstappen steckte anfangs im DRS-Zug, schwamm sich aber frei und gewann schlussendlich souverän.

Verstappen hängt im DRS-Zug

Für Max Verstappen bot das Rennen mehr Unterhaltung als viele seiner Siege davor. Um vom 6. Startplatz nach vorne zu fahren, waren mehr Qualitäten gefragt als nur Gasgeben. Im Chaos von La Source hielt sich der Holländer vornehm zurück, nahm lieber einen Platzverlust in Kauf als sich den Frontflügel irgendwo abzufahren.

Dann machte der Unbesiegbare eine Erfahrung, für die nicht einmal er und sein Red Bull eine Lösung haben. Verstappen hing in einem DRS-Zug fest. "Lewis bekam Windschatten und DRS von Leclerc. Da war er zu schnell für mich auf der Gerade. Ich musste warten, bis Lewis aus dem DRS-Fenster fiel." Leclerc hätte besser daran getan, Hamilton nicht abzuschütteln. Kaum war Verstappen an Hamilton vorbei, war auch der Ferrari fällig. Mit einem atemberaubenden Speed-Vorteil.

Das Fahren im Verkehr hatte Verstappens Reifen leiden lassen. So bekam er wenigstens mal das Gefühl, wie viel schwieriger das Reifenmanagement ist, wenn man im Pulk fährt. Deshalb konnte er bis zum ersten Boxenstopp auch seinen Teamkollegen nicht mehr einholen. Der frühere Boxenstopp half Perez wenig. Sein Reifenwechsel dauerte acht Zehntel länger als der des Teamkollegen.

Verstappen brauchte nur drei Runden, um in Führung zu gehen. Einmal allein unterwegs, war er nicht mehr zu halten. Auch von seinem Renningenieur nicht, der ihn ständig anwies, langsamer zu fahren, um die Reifen zu schonen. Verstappen antwortete patzig, dass er auch noch schneller fahren und Luft für einen zusätzlichen Boxenstopp rausholen könne.

Perez jedenfalls kassierte nach dem Führungswechsel mit 22,3 Sekunden Rückstand eine weitere Ohrfeige. Das macht einen Unterschied von 0,79 Sekunden pro Runde. Im gleichen Auto mit der identischen Reifenfolge.

George Russell - GP Belgien 2023
xpb
George Russell war mit mehr Abtrieb unterwegs als Teamkollege Lewis Hamilton.

Russell gewinnt fünf Plätze

Durch den Startunfall zwischen Oscar Piastri und Carlos Sainz zerfiel das Feld schnell in mehrere Portionen, weil Sainz noch 23 Runden mit einem stark lädierten Ferrari mitfuhr und viele Kollegen viel Zeit kostete. Bis Alonso das rote Hindernis überholt hatte, fehlten ihm schon 6,8 Sekunden auf Leclerc und Hamilton. Das holt man ohne Safety Car auch mit einem schnelleren Auto nicht auf. Und der Aston Martin war nicht schneller. Aber immerhin besser als in den letzten Rennen.

Alonso sicherte nur den 5. Platz ab. Beim ersten Stopp musste er auf den frühen Boxenstopp des erstaunlich schnellen Yuki Tsunoda reagieren. Vor dem zweiten hatte er genügend Luft auf George Russell, um vor dem Engländer zu bleiben. Danach hielt er den Abstand ein paar Runden auf zwei Sekunden, bevor er sich sicher war, dass die Soft-Reifen sanft eingefahren waren, um Gas zu geben und das Polster bis auf 6,9 Sekunden auszubauen.

Mercedes machte bei Russell aus der Not eine Tugend. Der WM-Sechste war nur als Elfter aus der Startrunde zurückgekehrt. Als sich im ersten Renndrittel herauskristallisierte, dass die Reifen länger halten als erwartet, reifte bei Mercedes der Plan zum Einstopp-Rennen. "Wir waren mit dem Medium-Reifen am Start mit George flexibel und haben abgewartet, bis klar war, dass der Regenschauer nicht stark genug für Intermediates sein würde und wir mit Soft-Reifen durchkommen. Von Gasly wussten wir, wie lange sie halten", erklärten die Mercedes-Ingenieure. Das Einstopp-Rennen schenkte Russell fünf Positionen.

Aston Martin verfuhr mit Lance Stroll deckungsgleich. Der Kanadier konnte immerhin zwei Punkte für den britischen Rennstall retten, wurde allerdings in der Schlussphase auf ausgelutschten Soft-Reifen von Esteban Ocon überholt und von Yuki Tsunoda unter Beschuss genommen. Ocon gewann mit der Reifenfolge der Sieger fünf Plätze. Alpine spielte mit frühen Boxenstopps erfolgreich auf Undercuts, und der Franzose war mit acht Überholmanövern einer der Aktivposten im Feld. Ihm half dabei der drittbeste Topspeed.

Lewis Hamilton - GP Belgien 2023
Wilhelm
Lewis Hamilton verpasste das Podest, sicherte sich aber wenigstens den Zusatzpunkt für die schnellste Rennrunde.

Schnellste Runde mit Medium-Reifen

Zum Schluss noch ein Wort zu Lewis Hamilton. Der Rekordsieger hatte im Kampf um das Podium gegen Leclerc nur eine Chance. Der Undercut beim ersten Boxenstopp. Er funktionierte nicht, weil Ferrari sofort reagierte und Hamilton in seiner Runde zum Boxenstopp sieben Zehntel auf den Ferrari verlor. Hamiltons Stopp zog nacheinander Leclerc, Perez und Verstappen an die Box. Das zerstörte jeden Plan eines Einstopp-Rennens an der Spitze.

Danach war der Mercedes nach Aussage von Teamchef Toto Wolff im Schnitt um eineinhalb Zehntel langsamer als der Ferrari. Was einerseits daran lag, dass Hamilton auf dem Weg von Kurve 15 bis zur Busstop-Schikane von Bouncing geplagt wurde und dass die Reifenabnutzung an diesem Tag generell nicht kritisch war. Davon profitierten die Teams, die normalerweise Probleme damit haben.

Am Ende blieb Hamilton nur noch der Angriff auf die schnellste Runde. Mercedes gab ihm dafür frische Medium-Reifen, statt gebrauchte Soft-Gummis, die man noch im Arsenal hatte. "Diese Soft-Reifen hatten schon zu viele schnelle Runden abgespult. Da gibt ein frischer Medium mehr Grip", erzählten die Strategen. Red Bull hielt Hamiltons Versuch vor Verstappen geheim. Nicht, dass der in der letzten Runde auf 14 Runden alten Reifen noch eine Wahnsinnsaktion startet, um die Bestzeit zu verteidigen.

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