Ferrari erlöst die Formel 1
Köpfchen schlägt Speed

GP Singapur 2023

Wieder hat ein Ferrari eine lange Siegesserie beendet. 1988 scheiterte McLaren an Ferrari, 35 Jahre später Red Bull. Der Ferrari war nur am Samstag das schnellste Auto im Feld. Das Rennen gewann Carlos Sainz mit Köpfchen.

Carlos Sainz - Formel 1 - GP Singapur 2023
Foto: xpb

Ein schöneres Märchen hätte es gar nicht geben können. Da kassiert Red Bull nach 14 Siegen in 14 Rennen seine erste Saisonniederlage, und dann gewinnt auch noch mit Ferrari das Team, das in diesem Jahr für seine schwankenden Leistungen schon viele Prügel eingesteckt hat.

Wie 1988 war es eines der roten Autos, das eine lange Siegesserie unterbrach. Vor 35 Jahren zerstörte Gerhard Berger den Traum von McLaren, alle Rennen einer Saison zu gewinnen. Und jetzt stand Carlos Sainz Red Bull im Weg. Und nicht nur er. Auch Lando Norris, Lewis Hamilton und Charles Leclerc kamen vor WM-Spitzenreiter Max Verstappen ins Ziel.

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Red Bull war kein Gegner. Dafür starteten Max Verstappen und Sergio Perez von zu weit hinten. Trotzdem musste man sie immer im Auge behalten, besonders als klar war, dass beide antizyklisch mit harten Reifen ins Rennen gingen. Die direkten Gegner von Sainz aber saßen im McLaren und Mercedes.

Carlos Sainz - Formel 1 - GP Singapur 2023
Wilhelm

Nach dem Start lagen zunächst zwei Ferrari an der Spitze.

Ideale Spielwiese für Ferrari

Den Grundstein für seinen zweiten GP-Sieg legte der Spanier mit dem überlegenen Speed. Er untermauerte seinen Anspruch mit dem besten Start und hielt den Traum 62 Runden lang mit einer taktischen Meisterleistung wach. Sainz war am Sonntag bei weitem nicht der schnellste Mann auf der Strecke. Aber der schlaueste. Und nur so konnte Ferrari seinen ersten großen Pokal nach 26 sieglosen Rennen in Folge abholen.

In Monza durfte man mit einer Pole Position von Ferrari rechnen. Warum aber in Singapur, dem totalen Gegenentwurf? Teamchef Frédéric Vasseur scherzte nicht ohne realen Hintergrund: "Unser Auto kann beide Extreme." Sainz füttert das mit Technik-Background an. "Uns kamen mehrere Dinge entgegen. Eine Strecke für maximalen Abtrieb. Kurven mit kurzem Radius. Schnelle Richtungswechsel. Dazwischen Geraden. Alles, was unser Auto mag."

Dazu kam: In der Betonröhre herrschte kaum Wind und die Asphalttemperaturen sind in den Abendstunden relativ konstant. Wenn sich Ferrari auf so viele positive Parameter einstellen kann, sind sie auf eine Runde auch für einen Red Bull in Hochform ein Gegner. "Es wird aber auch wieder Rennstrecken geben, auf denen kämpfen wir dann wieder nur um die Plätze 5 und 6", blieb Sainz realistisch.

Carlos Sainz - Formel 1 - GP Singapur 2023
Wilhelm

Sainz ging zu Beginn seiner Stints immer extrem vorsichtig zu Werke.

Reifenschonen hatte oberste Priorität

Dass die Pole Position in diesem Jahr kein Garantieschein für Ferrari ist, zeigte sich schon in Baku und Monza. Auch ohne Red Bull als direkten Gegner. Im Rennen sind andere Qualitäten gefragt. Sainz musste den Start gewinnen. Dann durfte er sich freuen, dass sich Charles Leclerc beim Spurt in die erste Kurve an George Russell vorbeigeschlichen hatte.

Mit zwei Ferrari an der Spitze war das Spiel einfacher, das Ferrari jetzt spielte. Sainz redete Klartext: "Wir alle kennen unsere Schwachstelle. Wenn wir zu viel attackieren, leiden die Reifen. Deshalb drehte sich am Beginn der Stints alles darum, die Reifen zu schonen."

Die Ferrari-Fahrer hatten klare Ansagen von der Box, wie schnell sie fahren durften, um bis zur Zielrunde für den Boxenstopp von Medium auf Hart zu kommen. Bis Runde 15 nicht unter 1.40 Minuten. Und danach nicht unter 1.39 Minuten. Leclerc wurde ein paar Mal daran erinnert, wie viel Abstand er halten musste. Auch zum eigenen Schutz. Ohne Turbulenzen fährt es sich einfacher.

Bei normalem Renntempo wäre das Safety Car in der 20. Runde Ferrari zur Hilfe gekommen, doch die Fahrer hatten so gut ihre Reifen gestreichelt, dass der Zeitpunkt höchst ungelegen kam. Weil es die Restdistanz auf den harten Reifen auf lange 42 Runden vergrößerte. Und zu allem Überfluss lag jetzt George Russell im Rückspiegel, weil Leclerc beim Doppelstopp Zeit eingebüßt hatte.

Ferrari war von Anfang an klar, dass Mercedes der Hauptgegner sein würde, da George Russell und Lewis Hamilton als einzige einen zweiten Satz Medium in ihrem Arsenal hatten, der bei der geringsten Chance zu einem zweiten Boxenstopp zur Trumpfkarte werden konnte. "Deshalb musste ich George einbremsen, um ihm diese Chance nicht zu geben."

Esteban Ocon - Formel 1 - GP Singapur 2023
xpb

Ocon löste eine VSC-Phase aus und brachte Mercedes eine Chance zur Attacke.

Ocon brachte Ferrari in Probleme

Ein Feld, das dicht zusammenhielt, war Ferraris beste Lebensversicherung. Aber es hielt nicht zusammen, weil die Red-Bull-Piloten beim Re-Start ihre Reifen nicht auf Temperatur brachten und das Verfolgerfeld aufhielten, nachdem sie auf die Plätze 6 und 7 abgerutscht waren. Das war die Lücke, in die Mercedes fallen konnte.

Als dann der liegengebliebene Alpine von Esteban Ocon eine VSC-Phase auslöste, herrschte Alarm an roten Kommandostand. Und im Cockpit mit der Startnummer 55. "Das hat unsere ganze Taktik über den Haufen geschmissen und uns schön unter Druck gesetzt", gab Sainz zu. "Zunächst war ich noch nicht nervös, aber kaum habe ich das Tempo erhöht, haben die Hinterreifen Grip verloren. Da wusste ich, dass es eng werden kann."

Das war der Moment, an dem Sainz entschied, sich einen Geleitschutz zu organisieren. Statt Abstand zu Lando Norris zu gewinnen, hielt er ihn im DRS-Fenster. "Damit hat Carlos mir und sich selbst geholfen. Die Mercedes hätten uns sonst überrollt", lobte Norris. Der McLaren-Pilot hatte keine Absicht, Sainz anzugreifen. "Eine Attacke auf ihn hätte mich nur verwundbar gegen George gemacht."

Carlos Sainz - Formel 1 - GP Singapur 2023
xpb

Norris schirmte Sainz nach hinten gegen die heranstürmenden Mercedes ab.

Balanceakt mit Beschützer Norris

Nur einmal verlor Sainz seinen Beschützer kurz aus dem DRS-Fenster. "Das war, als Lando in Kurve 17 einen Angriff von Russell abwehren musste. Dann habe ich in den ersten drei Kurven gewartet, um Lando wieder innerhalb der Sekunde zu lassen." Es war auch ein Balanceakt für den Spanier: "Ich wusste, dass ich beim geringsten Fehler selbst dran bin. Und ich wusste auch, dass die Mercedes mich kriegen, wenn sie es einmal an Lando vorbei schaffen."

Teamchef Vasseur lobte seinen Sieger: "Carlos hat von der ersten Runde am Freitag bis zur letzten am Sonntag alles richtig gemacht. Es war eine Fahrt der Extraklasse. Der DRS-Schutz von Norris war seine Idee. Das zeigt, dass er mit Köpfchen gefahren ist. Er hat erkannt, dass Lando und er im gleichen Boot sitzen."

Vasseur warnt davor, jetzt auch in Suzuka vom Sieg zu träumen. Andere Strecke, anderes Glück. Eines aber stellt der Franzose fest: "Seit unseren Experimenten im ersten Training von Zandvoort haben wir Fortschritte gemacht. Wir verstehen jetzt viel besser, wie wir unser Auto abstimmen müssen." Wer kann das schon mit diesen Groundeffect-Autos von sich behaupten?

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